Gelegentlich kommt es dazu, daß die Gewohnheit, das überaus schnelle Verstreichen der Zeit, Sorgen und die Aufgaben des Alltags verhindern, daß wir das eigentlich Wesentliche unserer Umgebung genießen und entsprechend schätzen; all jenes, das das Umfeld ausmacht, in dem unser Leben bisher ablief. Deshalb will ich nun, nachdem ich reifer geworden bin und einen gewissen Abstand gewonnen habe, eine, sagen wir „Reise der Wiederentdeckung“ durch meine Stadt antreten.

Matanzas wurde 1693 von dreißig von den Kanaren stammenden Familien gegründet. Es liegt auf der Strecke zwischen Havanna und Varadero, 100 km von der Hauptstadt und 32 km von dem touristischen Zentrum, eines der bedeutendsten Kubas, entfernt. Aus welcher Richtung man auch kommen mag, vor dem Besucher öffnet sich ein Panorama von so fesselnder Schönheit, daß es ihm für immer im Gedächtnis bleibt. Daher soll dieser also der Ausgangspunkt meiner Reise sein. Bei der Rückkehr in diese schöne „Stadt der Brücken“, als die sie traditionell bekannt ist, nach einer routinemäßigen Heimfahrt von meinem Arbeitsplatz liegt vor mir die Bucht, umgeben von Mythos und Poesie. Es ist eine weite und schöne taschenförmige Bucht, die die Geheimnisse von gesunkenen Schiffen und auf dem Meeresgrund noch ruhenden Schätzen in sich birgt. Ins Gedächtnis kommen mir meine Kinderjahre, als wir in der Schule über Korsaren und Piraten hörten, die in diesen scheinbar ruhigen Wassern Anker warfen; so der Holländer Piet Heyn, der 1628 die spanische Flota de la Plata zerstörte.

Die Stadteinfahrt zurücklassend, passiere ich auf dem Weg nach Hause die Brücke Lacret, früher La Concordia; ihre Säulen sind zum Symbol der Stadt geworden. Es stimmt schon, daß Matanzas besonders zu dieser Tageszeit des Sonnenuntergangs den Eindruck einer „schlafenden Braut“ erweckt, wie gewisse gefühlvolle Betrachter behaupten, dabei auf den Kamm des nahen Loma de Pan anspielend, die bedeutendste und höchste Erhebung der Zone und Inspirationsmotiv ihrer Dichter.

Die Stadt, schön in der ihr eigenen Heiterkeit, scheint im Nebel der Dämmerstunde zu schweben. Die nächste Brücke ist die Calixto García, benannt nach einem unserer vortrefflichen Patrioten. Ich betrachte sie von einem tiefer gelegenen Punkt aus, denn in Matanzas sind häufige Bodengefälle zu beobachten. Wie ich sie so betrachte, kann ich das Motiv der Inspiration unseres Romanciers José Jacinto Milanés verstehen, als er das Gedicht „De codos en el puente“ (Auf der Brücke) schrieb. Jetzt bin ich mir sicher, daß meine Entdeckungsreise es mir ermöglichen wird, hier in meinem Venedig Amerikas mich wie neu geboren zu fühlen. Deshalb warte ich auf den kommenden Tag, heute etwas ungeduldiger als gewöhnlich.

Es ist keine bloße Idee, sondern eine Gewißheit: der Geist dieser Stadt durchdringt ihre Menschen, sie für immer prägend. Also soll morgen nun die Erkundung ihrer Wesensmerkmale und auch der meinen fortgesetzt werden.

Plaza de la Vigía Ich befinde mich auf der Plaza de la Vigía. Die Bauten am Platz sind von klassizistischen Stilmerkmalen geprägt. Dieser erste Exerzierplatz der Stadt wurde zu Zeiten ihrer Gründung angelegt. Ich betrachte das Denkmal des Unbekannten Soldaten, das in dieser symbolischen Zone als Ehrenbezeugung für alle in den Unabhängigkeitskämpfen gefallenen Helden errichtet wurde, und bewundere die schöne Skulptur. Die Gebäude am Platz sind echte Vertreter der kulturhistorischen Werte der Stadt: die großen Portale, das Esteban-Theater (heute Teatro Sauto), das Feuerwehrhaus, das Zollgebäude, aus dem im 20. Jahrhundert der Justizpalast wurde, und der Palacio de Junco.

Das Sauto-Theater ist ein Juwel klassizistischer Architektur und von Akustik. Auf seiner Bühne haben relevante Künstlerpersönlichkeiten des Landes und der Welt gestanden. So die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt, die russische Tänzerin Anna Pawlowa, die Primaballerina Assoluta Alicia Alonso mit dem weltberühmten Ballett Nacional de Cuba wie auch andere Künstler und Gruppen. Das Theater zeigt sich mir heute in der vollen Größe seiner Tradition. Sein Projekt erstellte der Italiener Daniel D'allaglio, und eingeweiht wurde es am 6. April 1863. Heute steht das Sauto-Theater von Matanzas unter Denkmalschutz.

Nun betrete ich die historischen Portale am Platz La Vigía. Neben der Kunstgalerie der Stadt ist hier auch die Druckerei Vigía zu finden, spezialisiert auf manufakturierte Bücher von hohem künstlerischen Wert. Mit meinen Händen kann ich diese Schmuckstücke berühren, die Frucht von Willen und Talent des Menschen, und dabei frage ich mich: Kann es etwas geben, das sich der Mensch vorgenommen hat und dann wegen mißlicher Umstände des Lebens nicht realisieren kann?

Ebenfalls am Platz steht der Palacio de Junco, der heute ein Museum beherbergt. Es ist dieses das erste seiner Art, das von der Revolution eingerichtet wurde. Im Jahr 1959 wurde es in diesem Ende 1830 errichteten Palast eröffnet.

Nach Durchqueren der Halle stehe ich unmittelbar vor einer kleinen Vitrine. Sie birgt eine der ganz besonderen Seltenheiten, und zwar zwei als Bräute gekleidete Flöhe von der Halbinsel Yucatán, die nur mit Hilfe einer Lupe sichtbar sind. Eigentlich, so meine ich, ist meine Stadt eine Stätte von Kontrasten und von Hell und Dunkel, wo mit jedem Schritt eine Überraschung auflauert. Nachdem ich also diese Miniatur des mexikanischen Kunsthandwerks bewundert habe, gehe ich in einen wunderschönen von Jasminsträuchern bestandenen Innenhof, wo mich eine monumentale Statue Ferdinands VII. erwartet. Ihre enorme Größe, jedes einzelne künstlerische Detail, die Überlieferungen zum Ursprung seiner Präsenz in Kuba faszinieren mich heute mehr als früher, da ich den Vorsatz gefaßt habe, alles aus dem Blickwinkel eines Touristen zu betrachten, doch mit der Seele voller Erinnerungen, Gefühle und Liebe.

Die verschiedenen Räume und einmaligen Ausstellungsstücke des Museums – hervorzuheben sind hiervon das Original eines Marterblocks, Stilmöbel aus jener Zeit, die Spitzhacke, mit der ein Asiat die Bellamar-Höhlen entdeckte, und viele andere Stücke von anerkanntem Wert – versetzen mich in die Historie und die Kultur dieser Stadt, die in der Entwicklung der Insel ein Markstein gewesen ist. Als Treffpunkt für berühmte Gesprächsgesellschaften und andere Zusammenkünfte ist das Museum Palacio de Junco für renommierte Vertreter der kubanischen Kunst und Literatur zu einer Stätte obligatorischen Besuches geworden.

Mein Stadtrundgang führt nun durch die Straße Milanés, benannt nach dem hiesigen Dichter José Jacinto Milanés, der hier bis zu seinem Tode lebte. Es heißt, die unglückliche Liebe zu seiner Cousine Isa habe ihn geistig verwirrt.

Die Kathedrale von Matanzas Majestätisch und prachtvoll erhebt sich vor meinem Auge der 1912 von Papst Pius X. zur Kathedrale geweihte Bau mit all seinen architektonischen, materiellen und spirituellen Schätzen als stumme Zeugen der verflossenen Jahre. Fertiggestellt wurde der Bau im Jahr 1855. Trotz aller Reparaturen bewahrt er noch heute seine ihn prägenden Merkmale von einst. Wieviel Schmerz, wie viele Versprechungen sind eingeschlossen in seinen Wänden aus Quaderstein, die auch den großartigen Altar und die historischen Bänke umgeben, wo Hunderte Personen zum Dialog mit Gott niederknien!

Plaza de Armas Nun gelange ich zum Plaza oder Parque de la Libertad (Platz oder Park der Freiheit), der gegen 1800 als neuer Exerzierplatz angelegt wurde. Die Erinnerung an die traditionellen und pittoresken „Zapfenstreiche“ mit der Musikkapelle der Stadt und das nächtliche Auf und Ab Hunderter junger Menschen, die hier in Eroberungsabsichten spazierten, versetzt mich in eine Zeit zurück, an viele von uns, die wir nun bereits Eltern und Großeltern sind, mit Nostalgie denken.

Im Jahr 1909 wird an diesem Ort ein Martí-Denkmal enthüllt, eine Skulpturengruppe aus Bronce, die ebenfalls zum Wahrzeichen der Stadt wurde. Von da an erhielt der Platz den Namen Plaza oder Parque de La Libertad. In der Skulpturengruppe ist auch eine Frau, die Ketten des Kolonialjochs brechend. Sie steht symbolisch für das Vaterland.

Mit der Zeit entstanden um den Platz einige der wichtigsten Bauten der Stadt, so das Lyzeum für Kunst und Literatur (heute Konzerthaus José White), wo 1879 die erste offizielle Vorstellung des Danzón, unseres Nationaltanzes, stattfand; das Casino Español, wo ich zum traditionellen Karnevalsfest mit Aufsteckkamm und Kastagnetten meine spanische Tanztracht zur Schau trug. Heute beherbergt der Bau die Provinzbibliothek Gener und Del Monte. Es sind dies die Namen ihrer Hauptförderer, die namhaften Intellektuellen Domingo del Monte und der Katalane Tomás Gener. Die Bibliothek gehört zu den ältesten Kubas. Neben ihren vielen Räumen besitzt sie ein wertvolles Zeitungsarchiv und eine ziemlich vollständige Kollektion der 1828 gegründeten Tageszeitung La Aurora. Ihre Druckqualität und ihr Inhalt machte sie zu einem wertvollen Kleinod der kubanischen Journalistik des 19. Jahrhunderts. Vervollständigt wird das architektonische Umfeld von anderen Bauten wie dem Hotel Louvre, dem Filmtheater Velasco und der alten Apotheke "Botica Francesa“, gegründet von den Pharmazeuten Ernesto Triolet und Juan Fermín Figueroa.

Für mich ist diese Apotheke etwas, worauf man stolz sein kann. Aufmerksam betrachte ich heute ihre Schätze und ihre luxuriöse Ausstattung. Bedeutende Sammlungen, Etiketten, Originalmöbel, Bestecke für medizinische und Laborzwecke, Bücher mit Rezepturen der renommiertesten Ärzte von Matanzas. Alles ist exakt so erhalten geblieben wie es zu Anfang war. Der Welt wird ein in seiner Art einmaliges Juwel vorgeführt. Die Botica Francesa wurde 1964 als Museum eingeweiht.

Cueva de Bellamar Nun begebe ich mich zur mythosumwobenen Bellamar-Höhle. Entdeckt wurde sie 1861 von dem Asiaten Justo Wong, der in der Finca La Alcancía Kalkgestein abbaute. Hier offenbaren sich mir die Wunder der Natur in Form von Stalagmiten und Stalaktiten, deren bizarre Figuren für jeden Betrachter etwas anderes darstellen. In ihren mehr als 28 Räumen sind große Wandmalereien, Fossilien und Überreste der Gemeinschaften zu sehen, die vor etwa 1600 Jahren hier lebten. Die Höhle wurde 1987 unter Denkmalschutz gestellt. Viele Kristallgebilde zieren ihr Inneres; das größte, der „Umhang des Kolumbus“, ist eine zwölf Meter hohe Säule, entstanden aus der Verschmelzung eines Stalagmiten mit einem Stalaktiten. Dies alles ist ein wunderschöner Anblick, der noch ausgeschmückt wird vom Nimbus der sie umgebenden Legenden, wie jene vom „Bad der Amerikanerin“. Dieser Legende zufolge verschwand eine amerikanische Frau in den mysteriösen Gängen dieses Labyrinths oder ertrank in einer der überfluteten Grotten. Bei dieser Höhle nimmt das bedeutendste entlang des Küstengürtels führende Höhlensystem des Landes seinen Anfang.

El Valle de Yumurí Mein folgender Besuch gilt der Wallfahrtskapelle Monserrate, eingeweiht im Jahr 1875 als Ausdruck der von den in der Stadt etablierten Katalanen erreichten Wirtschaftskraft. Mit der Zeit verfallen durch Witterungseinflüsse, wartet sie auf ihrem hohen Podest auf die Umsetzung der geplanten Restaurierung. Ich kann sie mir schon vorstellen mit all ihrem Reiz aus ihrer ersten Zeit. Höhepunkt einer katalanischen Tradition, die in der Bevölkerung erhalten geblieben ist, ist die dort stattfindende „Fiesta de la Colla“, eine Art Wallfahrt, bei der Musik, Kunst, Religion, Brot und Wein Hunderte Einwohner vereinen.

Von hier aus hat man die beste Aussicht auf das Yumurí-Tal: eine typisch kubanische Natur mit ihren Palmen, die in der Ferne wie kleine Perlen einer Kette anmuten; vereinzelte Mangrovenwälder; die charakteristischen Anhöhen; der sich spielerisch schlängelnde gleichnamige Fluß; die vielfältigen Grüntöne, Licht und Schatten, von unseren Malern in ihren Werken verewigt, all das offenbart sich mir nun mit seiner ganzen beeindruckenden Kraft. Jetzt kann ich verstehen, warum ein gefühlvoller russischer Prinz bei diesem Anblick ausrief: „In diesem Paradies fehlen nur noch Adam und Eva“!

Parque Natural Canímar Der Tag war anstrengend. Doch bevor ich den Heimweg antrete, möchte ich den Tag im Canímar-Naturpark beschließen. So begebe ich mich also hinunter an den Rio Canímar. Von hier aus bewundere ich die monumentale Bogenbrücke und die Besonderheiten dieser Zone von hohem ökologischen Wert. Bei einer kurzen Fahrt im Ruderboot kann ich den gesamten Komplex betrachten: üppige grüne Vegetation, Felsenvorsprünge, Höhlen entlang des Flußufers. Ich bin berauscht von so viel Schönem. Man denkt an gar nichts, um den Sinnen freien Lauf zu lassen. Es ist nur ein Augenblick, um zu spüren, sich an der Landschaft zu berauschen. Es ist nur der Augenblick, um zu träumen. Hier beende ich diesen meinen ersten Tag der Wiederentdeckung. Die Stadt bleibt für weitere Überraschungen offen.