Arquitectura Vernácula
Sucht man im Wörterbuch nach der Bedeutung der Vokabel vernáculo, so findet man: einheimisch, von lokaler Bedeutung, Landes- und Heimat- in Wortzusammensetzungen. Im Zusammenhang mit Architektur bedeutet die Vokabel außerdem, dass fast stets Baustoffe eingesetzt werden, die in der Region oder der jeweiligen Umgebung zu finden sind; dass der Ausführung des Bauvorhabens, seiner Erhaltung und Erneuerung eine langjährige Erfahrung vorausgeht, dass sich die Arbeitskräfte über Generationen hinweg herausbilden, es sich also um eine Architektur ohne Architekten handelt und dass sie schließlich – ein der Karibikregion gemeinsames Merkmal – weite Entfernungen auf dem Land- oder dem Seewege hinter sich bringen kann.
Die ARQUITECTURA VERNÁCULA der Karibikstaaten zeigt alle diese Merkmale sowie zahlreiche formale Ausdrucksformen je nach dem jeweiligen Mutterland und der Herkunft der Bewohner, die sich hier in einem neuen und besonderen Ökosystem mit Inselcharakter befinden. Diese Architektur ist eng verknüpft mit dem Faktor Mensch; denn dieser ist es, der mit seiner Familie von ihr Gebrauch macht. So bildet sie also Bestandteil seines Wesens, des Wesens eines Volkes.
Ab dem 16. Jahrhundert gelangten kulturelle Einflüsse von der iberischen Halbinsel, Nordamerika, europäischen Mächten sowie anderen Völkern entfernterer Kontinente in die Karibik. In jener Vielfalt, die von der indigenen Kultur nur wenig oder nichts aufweist, besteht heute der größte Reichtum der Region. Die Vielfalt zeigt sich in Sprache, Gastronomie, Musik, in der Art zu leben und natürlich auch der Art zu bauen. Die Karibik ist zwar als nur eine, doch dabei vielfältige Region. Zu ihr gehören große, mittlere und kleine Inseln sowie Festland. Sie alle sollten eine Einheit bilden; die geographischen Entfernungen sind nicht groß, doch die realen Entfernungen hinsichtlich Kommunikation sind enorm.
Das Karibische Meer ist ein Schmelztiegel von Kulturen, Religionen, Eroberungen und Emanzipationen. Doch vor allem ist es ein Raum des Zusammenlebens und der Rassenmischung, trotz geographischer Vielfalt Zeichen einer gemeinsamen Identität bewahrend. Über Jahrhunderte hinweg galt das Meer stets als gefahrvoll, niemals als produktive Ressource. Unsere Produktion beschränkte sich vorwiegend auf Ackerbau und Viehzucht; es war eine von der Versklavung afrikanischer Neger geprägte Plantagenkultur.
Erst vor kurzem ist das Meer zu einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Ressource geworden, wobei der Fischfang hierbei nicht die Hauptrolle spielt, sondern es ist die Hauptattraktion der Region für den Tourismus und besitzt bei richtiger Nutzung ein enormes Entwicklungspotenzial. Tag für Tag hat sich ge zeigt, dass man sich in einer globalisierten Welt für das Besondere einer jeden Kultur interessiert. Und das ist der Punkt, der für das Kennen und Erhalten der ARQUITECTURA VERNÀCULA, diesem Symbol von Identität, steht.
Diese Architektur, ob popular oder traditionell, ist einer der überzeugendsten Beweise des großen kulturellen Reichtums der Region und ein wirksamer Reiz für den Ausbau des Kulturtourismus.
Als die Spanier 1492 in Kuba landeten, standen hier die mit Palmdächern bedeckten leichten Konstruktionen der Ureinwohner. Zwar schienen sie jenen Seeleuten exotisch, doch wurden die ersten Bauten in dieser neuen Umgebung im gleichen Stil errichtet. In jenem einzigartigen Aufeinandertreffen der Kulturen ist in der europäischen eine subtile Ambivalenz vorhanden. Die Spanier kamen als Fahnenträger einer romanisch-abendländischen Kultur, die eben erst eine arabisch-orientalische besiegt und von der Halbinsel vertrieben hatte. Die Lebensformen beider Kulturen waren von jeher grundverschieden. Die romanisch-abendländische lebte stehenden Fußes und in der besiegten arabisch-orientalischen saß man auf dem Fußboden. Die zuerst genannte benötigt das Möbel und die andere den Fußboden. Mit der Übernahme der Hütte (bohío) der Ureinwohner und der elementaren Möbel entsteht der postkolumbische Bohío als erster baulicher Mestize in Amerika. In Kuba ist der Bohío bis heute typisch für Gegenden mit verstreut in Fincas, Farmen, Haziendas und Tabakpflanzungen lebender Bevölkerung.
Der kubanische Bohío hat die Zeit überdauert, zeigt jedoch mengenmäßig eine klare entwicklungsbedingte Abnahme. Man könnte sagen, es ist ein vom Aussterben bedrohter Vertreter der Architektur. Ein von der gleichen Gefahr umgebener Verwandter ist das Holzhaus, repräsentativ für die städtischen Konstruktionen des 19. und die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
In vielen Karibikstaaten sind am Holzhaus das Fachwerk, die Außen- und die Innenwände von gleichem Material: Edelholz. Beim Dach kann es je nach Region Unterschiede geben; es überwiegt jedoch das Holzdach, bedeckt mit einheimischen oder Rundziegeln, Kremp- oder Flachziegeln. Weniger Verwendung findet gewellte Metallfolie oder die sogenannte Dachpappe. Tagtäglich liefern die neuen Technologien Ersatzprodukte, die an dieser traditionellen und fragilen Architektur mitunter eine aggressive Wirkung zeigen, deren Wert bei der geringsten Veränderung verloren gehen kann.
Generell am besten erhalten wurde bis jetzt das im Zusammenhang mit den Zuckerfabriken stehende einzelne Haus. Die Bateyes (großes Karree mit Herrenhaus, Wirtschaftsgebäuden und Hospital) sind eigentlich urbane Ensembles, konzipiert fast ausschließlich im Stil des nordamerikanischen Wohnhauses, Typ balloon frame, aus vorgefertigten Bauteilen. Diese Häuser wurden auch in Erholungsgebieten errichtet; so findet man sie auf Cayo Smith in der Bucht von Santiago de Cuba, in Punta Gorda an der Bucht von Cienfuegos und im berühmten Badeort Varadero der Provinz Matanzas. Natürlich gehört diese ARQUITECTURA VERNÁCULA nicht ausschließlich einer bestimmten Epoche an; doch die beiden vorgestellten Varianten, der typisch kubanische Bohío und die vereinzelt oder in Gruppen stehenden Holzhäuser sind Themen der Warnung und Besorgnis der gesamten Karibikregion.
Angesichts der Bedeutung des Themas wurde im Jahr 2003 in Havanna nach Vereinbarung zwischen dem Amt des Stadtchronisten und der spanischen Stiftung Diego de Sagredo der Lehrstuhl für ARQUITECTURA VERNÁCULA Gonzalo de Cárdenas gegründet. Die Stiftung dient kulturellen und wissenschaftlichen Zwecken. Dafür fördert, verbreitet, erforscht und bewahrt sie die Baukultur in allen ihren Äußerungen; gleichzeitig gibt sie Anregung und Unterstützung für Kongresse, Treffen und Events.
Eine spezielle Mitarbeit leistet sie der Universidad Politécnica de Madrid, in der sie auch ihren Sitz hat. Die Gemeinsamkeit der Interessen des Amtes des Stadtchronisten und der Stiftung liegt auf der Hand und findet Ausdruck in der Zusammenarbeit der Lehrstuhls Gonzalo de Cárdenas mit dem Instituto Superior Politécnico José Antonio Echeverría (ISPJAE); außerdem befindet sich der Sitz des Lehrstuhls in der Direktion Architektur des Kulturerbes beim Amt des Stadtchronisten von Havanna.