Kichernd im Land der Tepuis
Mehr als die Hälfte der Landesfläche Venezuelas steht unter Naturschutz. Von den 43 Nationalparks des Landes zählen „Canaima“ mit seinen mystischen Tafelbergen, den weitläufigen Savannen und dichten Urwäldern sowie die Inselgruppen von „Los Roques“ und „Mochima“ an der karibischen Küste zu den interessanten für den internationalen Tourismus. Unsere Autorin Kornelia Doren besuchte den Nationalpark Canaima und erlebte dabei, wie die Natur Venezuelas ernsthafte Touristen im Handumdrehen in verspielte Wesen verwandeln kann…
„Vamos!“ ruft Peter Rothfuss, während seine Sandalen eiligen Schrittes über Kieselsteine schürfen. Es ist halb sieben morgens in Ciudad Bolivar, im Südosten Venezuelas. Der Deutsche, der hier ein Gästehaus und ein Reisebüro hat, kümmert sich freundlich und präzise wie ein Coach um unseren Zeitplan. Wir haben über seine Agentur „Gekko Tours“ eine dreitägige Tour zum Nationalpark Canaima in der Gran Sabana und zum höchsten Wasserfall der Welt, dem Salto Angel, gebucht. Wir, das sind Tom und Marc, zwei Werbefachleute aus Australien, Julia, eine Angestellte aus Frankfurt, Miguel, ein Lehrer aus Mexiko und Juan, ein Musiker aus Venezuela und ich aus München. Ohne uns zu kennen, verbindet uns eine gewisse Abenteuerlust und das Interesse am Naturtourismus. Für die Langschläfer Tom und Marc, die nie vor neun Uhr frühstücken, verstaut Rothfuss verständnisvoll Lunchpakete im Jeep. Alles im Griff, die Fahrt zum nahegelegenen Flughafen kann losgehen. Der Motor raunt wie das Fauchen eines Tigers und Enzo, der Fahrer, braust mit uns aus der Posada „La Casita“ davon.
Canaima im Bundesstaat Bolivar ist berühmt für seine Tafelberge aus Sandstein, die in Venezuela Tepuis genannt werden, für die weitläufigen Savannen und dichten Urwälder. „Mit seinen 30.000 Quadratkilometern Fläche zählt er zu den größten Nationalparks der Welt und steht unter dem Schutz der UNESCO“, erklärt uns Enzo unterwegs. „Er hat zwei Bereiche: Der Westteil besteht überwiegend aus dem Regenwald Guayanas. Der Ostteil ist als „Gran Sabana“ bekannt.“ Julia ist neugierig geworden und liest aus einem Reiseführer vor: „Auf den Tepuis in der großen Savanne lebt eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt, unter anderem gedeihen dort endemische Orchideen und fleischfressende Pflanzen, die sich erst durch die klimatische Isolation der Tafelberge vom tropischen Regenwald entwickeln konnten.“ Juan, der stolz auf den Naturreichtum seines Landes ist, ergänzt: „Wasserfälle stürzen wie aus Wolken in das tiefe, üppige Grün hinab und erinnern an Szenen aus „Indiana Jones“. Sie gehören neben den Hochplateaus zu den Wahrzeichen des Parks.“ Wir freuen uns, morgen vor dem Salto Angel in der Gran Sabana zu stehen, den wir aus Büchern und Prospekten als höchsten freifallenden Wasserfall der Welt kennen. „Aber auch der Salto Kukenam und der Salto Sapo sind viel fotografierte Motive. Neben der „Isla Margerita“ und den schneebedeckten Ausläufern der Anden im Staat Mérida zählt die Wildnis Canaimas mit Recht zu den größten Touristen-Attraktionen Venezuelas“, resümiert Enzo, der nach vielen Jahren Tour-Erfahrung nicht nur als Fahrer, sondern auch als Guide arbeiten könnte.
Regenwald, soweit das Auge reicht
Bereits bei der Anreise mit einer achtsitzigen Cessna 207 erhalten wir einen Vorgeschmack auf die Wildnis Venezuelas: begrünte Tafelberge vor einem azurblauen Himmel, ein Tepui ist sogar herzförmig, immer wieder Wasserfälle, die aus dem dampfenden Regenwald hervor blitzen, Sandbänke, Lagunen und dichte Palmen-und Mangrovenwälder entlang des mächtigen Orinoco und seiner Nebenflüsse. Knapp eine Stunde später erwartet uns Reiseleiter José Luis im Reservat Kavak, das von den indigenen Pemóns verwaltet wird. Wie manch andere Indianerstämme arbeiten die Pemóns mit Touristen zusammen, die Besucherzahl ist jedoch monatlich limitiert. Sie verpflegen die Reisenden, geben ihnen eine Unterkunft, führen sie durch den Regenwald und geben ihr Naturwissen weiter. Andererseits gelingt es ihnen, ein vom Tourismus unabhängiges Leben zu führen und ihre Traditionen und Bräuche zu wahren. Auch das Jagen und Fischen gehört seit Jahrhunderten zu ihrer Lebensweise.
José Luis erklärt uns den Ablauf der Tour: „Morgen fahren wir drei Stunden lang im Einbaum auf den Flüssen Rio Carrao und Rio Churún. Das Ziel ist der Salto Angel. Den erreichen wir nur durch den Regenwald. Die letzten paar Kilometer werden anstrengend, es geht dort immer steil aufwärts.“
Ich freue mich darauf, ein wenig von Venezuela kennen zu lernen. Wir werden in freier Natur essen und in einer Hängematte schlafen, wandern, Boot fahren und in Kaskaden-Becken des Dschungels baden.
Kichern hinter dem Salto Sapo
Anschließend führt uns José Luis während eines einstündigen Spaziergangs zur Lagune von Canaima. Bei feuchten 28 Grad Celsius geht es an kegelförmigen Lehmhütten, Bächen und palmengesäumten, flachen Felsformationen vorbei. In dieser Savannenlandschaft laufen wir auf watteweichem, goldgelbem Sandboden, den später ein grobkörniger, zimtfarbener ablöst. Mit heißen Köpfen erreichen wir den Wasserfall Salto Sapo, dessen feinneblige Kraft als Dusche im richtigen Moment dient. Gleich wird es noch nasser, also raus aus den Kleidern, rein in die Badesachen und die Socken nicht vergessen - der Rutschgefahr wegen auf den pflanzenbewachsenen Steinplatten. Über diese spazieren wir gleich, sie sind unser Weg hinter dem Salto Sapo. Unter einem Felsvorsprung, der uns Schutz vor den herabstürzenden Wassermassen und eine Art natürlichen Korridor bietet, laufen wir zur gegenüberliegenden Seite der Lagune. Die auf den Körper herab prasselnden Güsse und das Tosen des sepia-farbenen Wasserfalls verändern etwas bei uns, wir kichern auf einmal wie Kinder. Tom aus Australien singt, Julia wackelt mit den Hüften und tanzt ein paar Takte Salsa dazu, hinter ihr eine tief grüne Dschungel- und Wasserlandschaft wie aus Jurassic Park. Miguel, der ernsthafte Lehrer, mimt vor der Wasserkulisse spontan und lautstark Tarzan, Juan macht es ihm nach, sie plustern sich im Duett auf und Marc hält die Szene mit einer wasserfesten Kamera fest. Während er filmt, drängt sich die Runde lachend und schubsend, Arm in Arm, vor seine Linse. Marc, der selbsternannte Regisseur, gibt Anweisungen, die Szene zu wiederholen und nach und nach zu variieren. Zurück im Camp teilen wir vor dem Essen hungrig unsere salzigen Kekse und spülen den trockenen Mund mit „Solera verde“, dem süffigen lokalen Bier. Marc, der sogar im Regenwald einen Laptop dabei hat, zeigt uns unter Gelächter das Filmergebnis des Tages, das er in schwindelerregend kurzer Zeit geschnitten und mit Musik unterlegt hat. „Auf einen schönen Rest des Tages“, prosten wir uns zu. Und der wird schön. José Luis lädt nach dem Abendbrot in sein Dorf ein, zur Fiesta mit Guiria-Live-Musik. Das Anprosten hat gewirkt.
Durch den Dschungel zum Salto Angel
Am nächsten Morgen stehen am Ufer des Flusses Churun in Canaima mehrere Einbäume zum Einsteigen bereit. Wir lassen auf Bitten unseres Reiseleiters alles im Begleitboot, was nicht nass werden darf. Das wird von Einheimischen in dicke Plastikplanen mitsamt dem Proviant verpackt. Nur die Kamera lassen wir uns nicht nehmen, die kommt mit, eingewickelt eine Tüte. Auch die leichte Regenjacke halten wir in dieser wasserreichen Umgebung in Griffnähe.
Was wir noch gestern vom Himmel aus beobachtet haben, erleben wir nun der Erde, genauer gesagt, vom Fluss aus. Zunächst führt uns der Churun, dann der Carrao an majestätischen Tafelbergen, Mangrovenwäldern, Felsen und Sandbänken vorbei. Weit weg von der Zivilisation wird die Stille dieser spektakulären Landschaft nur ab und zu durch das Zwitschern eines plötzlich dicht an der Wasseroberfläche vorbeifliegenden dunklen Vogels zart unterbrochen. Oder durch das Surren blau glänzender Libellen, die sich an den roten Rand des Bootes setzen, um wie blinde Passagiere ein wenig mitzureisen.
Trockenzeit: Bitte den Einbaum schieben
Es ist Trockenzeit. Durch den niedrigen Wasserstand verhakt sich der Einbaum gelegentlich im Flussbett. José Luis bittet die männlichen Gäste, auszusteigen und das Boot wie ein liegengebliebenes Auto wieder in Fahrt zu bringen. Auch wir Touristinnen wollen helfen, dürfen aber nicht mit schieben. Wir finden das erst ungerecht, lachen dann aber. Julia sagt: „Ach, das können wir ruhig mal annehmen, uns trotz Emanzipation von den Männern wie eine Königin behandeln zu lassen.“ Die Füße im Wasser, die Arme am Seitenrand des Gefährts aus Hartholz, stemmen sich die Männer mit aller Kraft nach vorn, während zwei Einheimische Steuer- und Backbord koordinieren. Nach zwei oder drei Minuten ist es geschafft.
Die spätere Wanderung führt an Riesenfarnen, orangefarbenen Pilzen und mit Lianen überwucherten Bäumen vorbei zu einem der meist fotografierten Motive des Nationalparks, zum Salto Angel, nach seinem Entdecker „Angel Fall“ genannt. Mit einer bewundernswerten Leichtigkeit gehen José Luis‘ kleine, nackte Füße über Mangrovenwurzeln und spitze Steine. Er sagt, aus Respekt zur Natur läuft er ohne Schuhe und hat auch keine Schmerzen. Während sich so manche darauf konzentrieren, nicht über das breit verzweigte Wurzelnetz im Dschungel zu stolpern, scheint José Luis darüber zu schweben, schnellen Schrittes.
Der Anblick des Salto Angels löst eine ähnliche Euphorie aus wie zuvor der Salto Sapo. Lachen und Johlen mischen sich mit dem Rauschen des berühmten Wasserfalls. Damit jeder ein Foto mit und ohne Gruppe von dieser Stelle mit nach Hause nehmen kann, baumeln dem Reiseleiter ein Dutzend Kameras um den Hals. Geduldig und geschickt erfüllt er uns jeden Wunsch, bevor es weitergeht, zum Bad in den Kaskaden unterhalb des Salto Angel.
Hängematten erfordern eine besondere Schlaftechnik
Bei Anbruch der Dunkelheit erreichen wir unser Camp im Regenwald. Gut, dass das Abendessen für den hungrigen Magen bereit steht. Es gibt Reis, Bohnen und würzig-saftiges Rindfleisch. Der vorbereitete Berg an Decken signalisiert: Es wird kalt heute Nacht, in der Hängematte. Wer sie gewohnt ist, schläft diagonal darin. Wer nicht, der übt noch ein bisschen und schaukelt sich in den Schlaf. Tom, Julia und Marc wollen nicht in der „Hamaca“ schlafen. Auf die Drei warten, weil sie es dem Reiseleiter rechtzeitig gesagt haben, organisierte Luxus-Luftmatratzen.
Der letzte Tag führt uns in verschiedene Himmelsrichtungen, zu neuen Exkursionen. Miguel bricht auf zu einer siebentägigen Trekking-Tour zum Tafelberg Roraima, die ab Santa Elena de Uairen im Süden beginnt. In der Posada „Los Pinos“, nahe der brasilianischen Grenze wartet bereits eine Gruppe auf ihn, mit der er nach dem Roman des englischen Schriftstellers Arthur Conan Doyle die „vergessene Welt“ erkunden wird. „Ich bin froh, dass ich dafür mein Zelt nicht extra aus Mexiko anschleppen musste“, sagt Miguel. „Der Posada–Besitzer Eric Buschbell kennt das als Trekker selbst. Deshalb stellt er uns eine hochwertige Ausrüstung und organisiert die Tour, das macht die Sache viel einfacher.“ Julia wird eine meeresbiologische Station im Nordwesten Venezuelas besuchen, die sich, umgeben von paradiesischen, einsamen Stränden und türkisblauem Wasser im Archipel von „Los Roques“ befindet. Dort will sie „Schildkröten-Mama“ werden, sie lacht. „Adoptiere eine Schildkröte, komme nächstes Jahr wieder und entlasse sie selbst in die Freiheit“ heißt es auf der Insel Dos Mosquises, wo die kleinen „Tortugas“ behütet werden. „Ich helfe gern, nicht nur im Urlaub“ kommentiert Julia den nächsten Ausflug. Tom und Marc zieht es an die Ostküste Venezuelas, wo sie vor dem Rückflug nach Australien noch ein paar Tage im Fischerdorf Santa Fé tauchen, schnorcheln und Pelikane fotografieren wollen. Sie haben gehört, die Delphine buhlen mit Pelikanen manchmal, dicht an dicht, um Fische, die übermütig aus dem Wasser springen. Und nach solchen Fotomotiven suchen sie. Bei Sonnenuntergang werden wohl sie gegrillten Fisch am halbmondförmigen Palmenstrand essen und die Reise Revue passieren lassen. „Zwei Dinge stehen jetzt schon fest“, sagt Tom zum Abschied. „Erstens: Venezuelas Natur ist verschwenderisch und vielfältig. Zweitens: Eine Reise reicht für all diesen Naturreichtum gar nicht aus. „Wir sehen uns also im nächsten Jahr wieder.“ „Willkommen in Venezuela!“, sagt Reiseleiter Jose Luis.