Vom 3. bis 10.12.1979 fand in Havanna das I. Internationale Festival des Neuen Lateinamerikanischen und Karibischen Films unter den Auspizien des kubanischen Instituts für Filmkunst und Filmindustrie (ICAIC) statt, dessen Gründungspräsident Alfredo Guevara war.
In der Eröffnungsrede hob Guevara hervor: „... mit neuen Waffen, neuen und nicht besseren, doch neuen und unverfälschten wird eine Generation junger Menschen bestrebt sein, mit dem Film die intellektuelle und politische Leistung unserer Schriftsteller und Künstler zu vollbringen, die über Jahrhunderte hinweg... wie Gelehrte und Juweliere am Bild unseres Amerika gebastelt haben, dabei seine tiefe Einheitlichkeit zutage fördernd, die Wunder seiner Mannigfaltigkeit, die Echtheit seiner Historie...“
Vorläufer des Treffens von Havanna waren die Filmfestivals in Viña del Mar (1967 und 1969), organisiert von dem Chilenen Aldo Francia und seinen Mitarbeitern. Das erste dieser Festivals wurde zum ersten Treffen auf unserem Kontinent, gewidmet jenen, die unabhängigen Film kreierten, die Widerspiegelung eines „anderen“ Bildes unserer Realität, weitab von den jahrzehntelang von der kommerziellen Filmproduktion geförderten Regeln.
Seit Mitte der 50er Jahre gibt es den Neuen Film. Damals kam es in diversen Ländern Lateinamerikas zur Produktion von Filmen, die sich sehr stark für die Probleme unserer Nationen engagierten. Filme wie Río 40 grados von Nelson Pereira dos Santos (Brasilien), El Mégano von Julio García Espinosa und anderen (Kuba) sowie die Werke der Dokumentarfilm-Schule Santa Fe, geleitet von Fernando Birri, sind unter den ersten Versuchen zu finden.
Die 60er Jahre – Jahre des Zorns, so der chilenische Cineast Miguel Littín – sollten den Kontext bilden für die Festigung jener mehr kritischen und pluralen Vision unserer Kulturen und Realitäten; einer Festigung im Rahmen einer Bewegung, zu deren Stützen Glauber Rocha und die anderen Vertreter des Cinema Novo Brasileño gehörten. In Havanna produzierte indessen Santiago Alvarez einige seiner Klassiker; Tomás Gutiérrez Alea provozierte mit Memorias del subdesarrollo, Las doce sillas, La muerte de un burócrata und anderen Filmen, und der junge Humberto Solás übergab seine Lucía. In Chile zeigten sich bereits Ergebnisse des seit 1957 bestehenden Filminstituts der Universidad Católica; der Bolivianer Jorge Sanjinés legte die Realität der Gesellschaft, speziell die der indigenen Bevölkerung seines Landes, bloß. Der Funke des neuen Films zündete, und das trotz der Krisensituation, in die die Diktaturen, die viele Jahre lang die politische Bühne der Region beherrschten, die Nationen geführt hatten. Im Jahr 1974 wurde in Caracas das Comité de Cineastas de América Latina mit dem Ziel gegründet, die Regisseure des Kontinents vor den – in mehreren Fällen wahr gemachten – Drohungen zu vertreten und abzuschirmen. Fünf Jahre danach, als die Optionen, diese so ganz andere Kunst zu zeigen, für die viele Cineasten ihr Leben riskierten, bereits erschöpft schienen, öffnete Havanna dem Neuen Film seine Filmtheater, sie bis heute offen haltend.
Das Filmfestival in Havanna Jenes aggressive Umfeld, in dem die Werke des neuen Films zu gedeihen beabsichtigten, ließen Havanna zu einem Pol des Friedens und der Begegnung für die Regisseure der Region werden. Sind auch in den letzten Jahren in Lateinamerika und der übrigen Welt ähnliche Events entstanden oder neu belebt worden, wäre es doch unmöglich, ja sogar undankbar, die Rolle übergehen zu wollen, die das kubanische Festival während seiner 25 Jahre gespielt hat.
Von Anfang an zeichneten sich die führenden Länder ab sowohl in Produktion als auch der Qualität ihrer Filme und deren Aufnahme beim kubanischen Publikum. Seit jeher waren fast immer Brasilien, Argentinien und Mexiko die großen Favoriten des Wettbewerbs, wenngleich auch andere Nationen wie Kuba, Venezuela, Chile und Peru Filme und Regisseure auf die Gewinnerliste setzen konnten.
Namen wie Geraldo Sarno, Tisuka Yamasaki, Carlos Diegues, León Hirszman u.a. aus Brasilien teilen sich den Ruhm des neuen Films mit den Jüngeren Andrucha Waddington, Walter Salles, Karim Ainouz, José Henrique Fonseca, Claudio Assis u.a.; die Mexikaner Arturo Rippstein, Paul Leduc, Juan A. de la Riva, Felipe Cazals, Jorge Fons u.a. tun dasselbe mit Luis Carlos Carrera, Alejandro González Iñárritu, Maryse Sistach u.a.; Argentinier wie Adolfo Aristarain, Fernando „Pino“ Solanas, Luis Puenzo, Juan José Jusid, Eliseo Subiela u.a. produzieren weiter, und parallel dazu entwickelt sich eine Generation von Autoren wie Carlos Sorín, Lucrecia Martel, Diego Lerman, Pablo Trapero, Daniel Burman u.a.
Der Peruaner Francisco Lombardi und der Bolivianer Jorge Sanjinés bleiben fernerhin Höhenmarken, ebenso die Kubaner Tomás Gutiérrez Alea, Santiago Alvarez, Julio García Espinosa, Humberto Solás, Fernando Pérez u.a., doch ist auf der Insel kreative Unruhe von Generationen zu spüren, die sich seit den 90er Jahren ihren Weg öffnen. Zur Spitze gehören Arturo Sotto und Enrique Alvarez, kurz danach dann Humberto Padrón, Pavel Giroud, Lester Hamlet, Esteban Insausti, Ian Padrón u.a.
Doch eine Frage steht im Raum: Wieviel ist von den ideell-ästhetischen Auffassungen, die zum Neuen Lateinamerikanischen Film geführt haben, in diesem heute noch enthalten? Alfredo Guevara, einer der Gründerväter der Bewegung und Hauptinitiator des Festivals in Havanna sagte bei einer Gelegenheit, dieses sei nicht als eine Art Schule oder in sich geschlossene Struktur entstanden, sondern als eine ethische, ästhetische Strömung, die zum ganzheitlichen Ausdruck einer sehr komplexen Realität werden will. Der Chilene Miguel Littín teilt diese Meinung und behauptet, der Neue Lateinamerikanische Film lasse weder Grenzen gelten noch halte er etwas von Dogmen und Religionen, sondern er nähre sich an der Dialektik des Lebens.
„Mit neuen Waffen, neuen und nicht besseren, doch neuen und unverfälschten“ erfährt die Bewegung der Filmkunst, Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als solche gegründet, eine Erneuerung und Umgestaltung, wovon das Internationale Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna Zeugnis ablegen kann.
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